Evangelium nach Maria Magdalena
„Wird auch die Materie gerettet oder nicht?"
Der Retter sagte: " Alle
Natur, jede Gestalt und jede Kreatur besteht in- und miteinander und wird
wieder zu ihren eigenen Wurzeln hin aufgelöst. Denn die Natur der Materie kann
sich nur zu ihren eigenen Wurzeln hin auflösen. Wer Ohren hat zu hören, der
höre!"
Da sprach Petrus:" Du
hast uns alles erkennen lassen, sag uns nun auch noch dies: Worin besteht die
Sünde der Welt?"
Der Retter sprach: „ In
Wahrheit gibt es keine Sünde, sondern ihr macht Sünde durch euer Tun. Sie kommt
aus der Natur der zerbrochenen Ehe. Das nennt einer Sünde. Deswegen aber kam
das Gute in die Mitte, hin zum Wesen jeder Natur, um so wieder in ihre Wurzel
einzufügen."
Und er sprach weiter: „Deswegen entsteht auch ihr, und deswegen
sterbt auch ihr Wer es fassen kann, der soll es fassen! Es gibt ein Leid, das nicht verglichen werden
kann. Es ist aus einem gegenüber der Natur hervor gegang-en. Daher entsteht
eine Verwirrung überall am Leibe. Und deswegen habe ich Euch gesagt: Habt Mut! Auch
wo ihr Mut nicht habt, habt dennoch Mut! Denn ihr seht doch, die Gestalten der
Natur, sie sind verschieden. Wer Ohren
hat zu hören, der höre!"
Als der Selige das gesagt
hatte gab er allen den Kuss und sprach: „Frieden
mit euch! Mühet euch um meinen Frieden. Hütet euch, dass niemand euch abirren
lasse mit den Worten: Seht hier, Seht da! Denn der Sohn des Menschen ist
inwendig in euch. Ihm sollt ihr nachgehen! Wer ihn sucht, wird ihn finden. Geht
also und predigt das Evangelium der Herrschaft Gottes! Ich habe euch kein anderes Gebot gegeben, nur
das, worin ich euch unterwiesen habe. Und ich habe euch kein Gesetz gegeben,
wie Gesetzesstifter tun. Ihr sollt nicht durch das Gesetz ergriffen
werden." Als er so sprach, wurde er unsichtbar.
Sie aber waren traurig,
weinten und sprachen: „Haben wir jetzt zu den Völkern hinaus zu gehen, um das
Evan-gelium vom Menschensohn zu predigen?"
Da erhob sich Maria, gab
allen den Kuss und sprach zu den Brüdern: „Weint nicht, trauert nicht und
zweifelt nicht, denn seine Huld wird mit euch sein und euch hüten. Lasst uns
seine Größe rühmen, denn er hat uns her-gerichtet und aus uns Menschen
gemacht."
Indem dies Maria sagte,
wendete sie den Sinn derer, die ihr zuhörten, zum Guten, und sie begannen über
die Worte des Retters miteinander zu reden.
Petrus sprach zu Maria: „Schwester,
wir alle wissen, dass der Retter dich lieber hatte als die anderen Frauen. Sage
du uns Worte des Retters, derer du dich erinnerst und die du kennst, wir aber
nicht, weil wir sie auch nicht gehört haben."
Da fing sie an, ihnen diese
Worte zu sagen: „Ich" sprach sie
„ich sah den Herrn im Traum und sprach zu ihm: Herr ich sah dich heute in einem
Traum! Er gab Antwort und sprach zu mir: Segen über dich, da du nicht strauchelst
bei meinem Anblick. Denn wie euer Herz ist, wird auch eure Kraft zu sehen sein.
Ich sprach zu ihm: Herr,
sieht ein Mensch im Traum, den er sieht, durch die Seele oder durch den Geist?
Der Retter gab Antwort und
sprach: Er sieht weder durch die Seele noch durch den Geist, sondern durch die
Mitte und von beidem sieht der Traum durch den Sinn.
Und das Verlangen sprach: Ich
sah nicht, wie du herankamst. Jetzt aber sehe ich, wie du hinaufsteigst. Warum
lügst du also?
Die Seele antwortete und
sprach: Ich habe dich durchaus gesehen, aber du hast mich nicht gesehen, du
hast mich nicht erkannt. Obwohl du ein `Kleid' war's, hast du mich nicht
erkannt.
Als sie dies gesagt hatte,
jubelten sie in Freude und gingen davon. Darauf kam sie zur dritten Gewalt. Man
nennt sie Unwissenheit. Diese wollte die Seele ausprüfen: Wohin gehst du? Du
bist in der Tat gefangen, in der Sünde ergriffen. Richte also nicht!
Aber die Seele sprach: Worum
richtest du mich, wo ich dich nicht richten soll? Zwar bin ich ergriffen worden,
aber ich selbst habe nicht zugegriffen. Ich bin nicht erkannt worden, aber ich
habe erkannt, dass nämlich das ganze Universum frei wird, himmlisches wie
irdisches.
Nachdem die Seele die dritte
Gewalt hinter sich gelassen hatte, stieg sie hinauf vor die vierte Gewalt. Die
war siebengestaltig. Die erste Gestalt ist die Finsternis, die zweite das
Verlangen, die dritte die Unwissenheit, die vierte die Bringerin des Todes, die
fünfte der Bereich des Fleisches, die sechste das dumme Verlangen des
Fleisches.
Das sind die sieben Genossen
des Zornes. Diese fragen die Seele: Woher kommst du, du hast Menschen getötet?
Und wohin gehst du, du überwindest Raum?
Die Seele antwortete und
sprach: Getötet ist worden, was mich festhielt, was mich umwendete, ist
umgewendet. Mein Verlangen ist zu Ende. Meine Unwissenheit ist gestorben. In
der Welt wurde ich gerettet aus der Welt durch eine hohe Gestalt. Ich wurde
gerettet aus der Fessel, nicht zu erkennen. Dies besteht nur auf Zeit. Von
jetzt an werde ich Ruhe erlangen. Dies ist der richtige Zeitpunkt. Ich werde
Ruhe erlangen im Schweigen."
Als Maria das gesagt hatte,
schwieg sie. Dies war, was der Retter zu ihr geredet hatte.
Andreas aber sprach dawider
und sagte zu den Brüdern: „Sagt doch, wie denkt ihr über das, was sie gesagt
hat? Ich glaube nicht, dass der Retter so geredet hat. Seine Lehren haben eine
andere Bedeutung."
Da redete Petrus dawider und
fragte seine Brüder über den Retter: „ Sollte er tatsächlich mit einer Frau
allein
gesprochen und uns
ausgeschlossen haben? Sollten wir ihr etwa zunicken und alle auf sie hören? Hat
er sie uns vorgezogen?"
Da weinte Maria und sprach zu
Petrus: „Mein Bruder Petrus, was sagst du da! Meinst du, ich hätte dies alles
selbst ersonnen in meinem Herzen und würde so über den Retter lügen?"
Da nahm Levi das Wort und
sprach zu Petrus: „Mein Bruder Petrus, du bist von jeher aufbrausend. Und jetzt
sehe ich, wie du dich gegen diese Frau groß machst, als hättest du einen
Rechtsgegner. Wenn aber der Retter sie für Wert genug hielt, wer bist dann du,
dass du sie verwürfest? Sicherlich kennt der Retter sie ganz genau. Und deshalb
hat er sie auch mehr als uns geliebt.
Wir sollen uns also schämen
und den endgültigen Menschen anziehen. Wir sollen werden, wie er uns angewies-en
hat und das Evangelium predigen, ohne dass wir eine Weisung oder ein Gesetz
geben, es sei denn das, indem uns der Retter unterwiesen hat."
Als Levi das gesagt hatte,
rüsteten sie sich, auszurufen und zu predigen.